Landtag forderte Aufarbeitung der ungerechten Verurteilungen von Homosexuellen
Der Landtag hat in seiner Plenarsitzung am 26.03.2014 beschlossen, sich für eine bundesweite Aufarbeitung der Verfolgung von Homosexuellen nach 1945 einzusetzen. In seiner Rede zum Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erläuterte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, warum es wichtig sei, dieses dunkle Kapitel der Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik aufzuarbeiten. Dabei gehe es nicht nur um die strafrechtlichen Folgen, sondern auch um die vielen weiteren Diskriminierungen, denen sich Homosexuelle ausgesetzt sahen.
Hier die Rede im Wortlaut:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor 20 Jahren wurde endlich ein Schlussstrich unter eine jahrzehntelange Verfolgung homosexueller Menschen in unserem Land gezogen. § 175 Strafgesetzbuch wurde abgeschafft, ein Paragraf, in dessen Namen Rechtsprechung erfolgte, die zu Verhaftungen, Gefängnis, öffentlicher Brandmarkung und Verlust von Arbeitsplätzen führte. Die Abschaffung konnte aber die leidvollen Schicksale der Betroffenen nicht ungeschehen machen.
Darum ist es ein sehr wichtiges Zeichen, wenn sich der nordrhein-westfälische Landtag diesem unrühmlichen Kapitel unserer Rechtsgeschichte in der heutigen Debatte widmet. Es gilt, eine Wiederholung dieses Unrechts in Gegenwart und Zukunft auszuschließen. Es gilt, sich zu entschuldigen für das, was im Namen des Volkes als Recht gesprochen wurde, ob-wohl es die Würde des Menschen missachtet. Das ist auch meine persönliche Motivation, an die Opfer zu erinnern und den noch Leben-den unter ihnen endlich Recht zuteil werden zu lassen. Dazu gehört auch die vollständige Aufarbeitung dessen, was geschah.
Bereits im September 2012 haben wir durch einen einstimmigen Beschluss hier im Plenum die Landesregierung aufgefordert, die Initiative der Bundesländer Berlin und Hamburg zu unterstützen, die sich für eine Aufhebung der Verurteilungen nach 1945 einsetzt. Der Bundesrat hat daher im Oktober 2012 folgende Aufforderung an die Bundesregierung beschlossen: „Die formelle Aufhebung der einschlägigen Strafurteile sowie eine daraus resultierende Entschädigung sind ernsthaft zu prüfen.“
Dennoch ist es wichtig, mit dem heutigen Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen einen Schritt weiter zu gehen. Wir wollen nunmehr eine umfassende bundesweite Aufarbeitung dieser Schicksale, nicht nur in strafrechtlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die vielen anderen Diskriminierungen, die LSBTTI-Personen (Gemeint sind damit Menschen verschiedener sexueller und geschlechtlicher Identitäten: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle.) erleiden mussten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
auch wenn es vielen von Ihnen bekannt ist, aber ich glaube, das Thema bedarf noch mal eines kurzen historischen Rückblicks.
Von 1872 bis 1994 wurden homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt. Unzählige Ermittlungsverfahren sind in Deutschland und auch in Nordrhein-Westfalen aufgrund dieser deutschlandweit geltenden Tatbestände eingeleitet worden.
Besonders haben mich die Schicksale der Männer erschüttert, die Konzentrationslager überlebten, Entschädigungen beantragten und sich anschließend wieder Ermittlungsverfahren ausgesetzt sahen. Denn die verschärften Strafnormen der Nazi-Zeit aus dem Jahr 1937 galten auch in der Bundesrepublik zunächst unverändert weiter. Meine Kollegin Josefine Paul hat in der Debatte im Jahr 2012 einige weitere erschütternde Schicksale geschildert.
Als Jurist bin ich besonders angewidert von der perfiden Stringenz, die sich in den Anfangsjahren des Bundesverfassungsgerichts gezeigt hat. Noch 1957 bestätigten die damaligen Hüter des Grundgesetzes die Strafnormen gegen Schwule als im Einklang mit unserem Grundgesetz. Ich darf zitieren: „Gleichgeschlechtliche Betätigung verstößt eindeutig gegen das Sittengesetz.“
Es folgten lange Ausführungen von sogenannten Sachverständigen über den Sexualtrieb von Männern, von Frauen, ob hetero- oder homosexuell, die heute, glaube ich, nicht mehr aktuell sind. Das Verfassungsgericht spannte einen Bogen über die abendländlich-christliche Kultur und begründete damit die Ablehnung von Homosexualität und die Rechtfertigung, solche Hand-lungen unter Strafe zu stellen.
Das, was aber in dem Urteil fehlte, waren rechtshistorische Betrachtungen, dass man seit der napoleonischen Zeit, seit dem Code civil, einvernehmliche Sexualhandlungen eben nicht unter Strafe stellte. Erst die Einführung eines reichseinheitlichen Strafrechts in Deutschland 1872 führte wieder dazu, dass Homosexualität in allen Ländern, unter anderem dann auch wieder in Bayern, strafbar wurde. Es fehlte der Hinweis, dass sich bereits vor der Einführung des Strafgesetzbuchs und besonders danach eine Bewegung gründete, die sich ausdrücklich gegen den § 175 in unserem Strafgesetzbuch wandte.
Einer ihrer führenden Köpfe war der Begründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, Magnus Hirschfeld. Hirschfeld war es auch, der eine Petition in den Reichstag einbrachte. Hieraus entstand eine Debatte, die sich im Jahr 1898 im Reichstag abspielte und, ich meine, sehr lesenswert ist. Kein Geringerer als der damalige sozialdemokratische Parteivorsitzende August Bebel unterstützte als Mitunterzeichner diese Petition und forderte gemeinsam mit vielen seiner Kollegen damals schon die Aufhebung des § 175. Er beklagte, mit dieser Norm sei willkürlicher Verfolgung Tür und Tor geöffnet. Er führte aus, dass anstelle von Verfahren die Sittenpolizei Listen führte, um Einzelpersonen später unter Druck zu setzen. Sodann erläuterte er, was zu sehr viel Aufregung im Reichstag führte, dass bei einer konsequenten Anwendung des § 175 Tausende Personen allein in Berlin und Preußen betroffen wären und die Justiz vermutlich zwei neue Gefängnisse bauen müsste. Im Kern kritisierte er also, dass die strafrechtliche Verfolgung höchst willkürlich war und die Bestimmun-gen daher aufzuheben seien.
Genau diesen Aspekt greift unser Antrag auf. Wir fordern die Landesregierung auf, sich für eine bundesweite Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung einzusetzen. Denn es liegt auf der Hand, dass es bei der Verfolgung sehr große regionale Unterschiede nicht nur in unserem Bundesland, sondern in der gesamten Bundesrepublik gab. Es gab auch sehr große Unterschiede bezüglich der betroffenen Schichten.
Im Kern verkam der § 175 zu einem Instrument, mit dem eine sehr willkürliche Verfolgung legitimiert wurde.
Aber nicht nur die strafrechtliche Verfolgung soll und muss aufgearbeitet werden. Es gab darüber hinaus auch zahlreiche Entscheidungen, die zu arbeitsrechtlichen und beamten-rechtlichen Konsequenzen führten. Beispiele gibt es leider viele. Häufig genügten Gerüchte, um Karrieren und Existenzen zu zerstören.
1966 traf es Franz Grobben. Er war als CDU-Mitglied 1958 zum Regierungspräsidenten in Köln berufen worden. Er war an einem Treffpunkt für Schwule, einer sogenannten Klappe, aufgegriffen worden, erkennungsdienstlich behandelt und anschließend aus gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst entfernt worden.
1984 führte die Kießling-Affäre dazu, dass ein angesehener General der Bundeswehr aus dem Amt entfernt wurde, nur weil Gerüchte aufkamen, er sei homosexuell. Sie können das nachlesen. Viele werden sich erinnern. Es gab eine ganz große Debatte in der Öffentlich-keit, die dann dazu führte, dass er rehabilitiert wurde.
Ein Jahr später sorgte der Fall des Bundesanwalts beim Bundesgerichtshof, Manfred Bruns, für Schlagzeilen. Die „BILD“-Zeitung schrieb über sein Outing. Am Tag danach wurde er von Journalisten gefragt, ob er sich denn jetzt verfolgt fühle. Bruns antwortete – ich darf zitieren –: Wenn man alle Schwulen entlassen würde, müssten auch Minister und andere Mitarbeiter bei der Bundesanwaltschaft entlassen werden. Darauf folgte eine Anzeige wegen Verleumdung. In seiner Erinnerung schildert er sehr eindringlich, dass sein damaliger Chef, Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, nicht damit umgehen konnte, wie er sagt, und jahrelang nicht mehr mit ihm sprach. Ein vom damaligen Bundesinnenminister Hans Engelhard eingeleitetes Disziplinarverfahren wurde dann nach weiteren Presseberichten wieder eingestellt. Bruns schildert in seinen Erinnerungen, ein Coming-Out in den 50er-Jahren wäre der bürgerliche Tod gewesen.
Bruns aber ist das Beispiel eines Menschen, der sich nicht hat einschüchtern lassen, sondern der sich dann erst recht mit rechtspolitischen Fragen der Homosexualität sowie auch mit juristischen Fragen bei HIV und Aids beschäftigt hat. Noch heute ist er einer der renommierten Juristen, die sich im LSVD für die Rechte von LSBTTI einsetzen. Das ist mit Blick auf unseren Antrag eine weitere Forderung an die Landesregierung. Es ist ein Beispiel dafür, dass auch die LSBTTI-Emanzipationsbewegung aufgearbeitet und betrachtet werden muss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
einige von Ihnen werden sicherlich die Frage stellen: Ist das alles denn heute noch notwendig? Meine Antwort: Ja, das ist es, auch wenn sich vieles geändert hat.
In den 50er- und 60er-Jahren wäre es wahrscheinlich undenkbar gewesen, dass sich ein Berliner Bürgermeister hingestellt und diesen berühmten Satz „Ich bin schwul, und das ist gut so“ gesagt hätte. In den 50er-Jahren wäre es wahrscheinlich auch unvorstellbar gewesen, dass sich ein Außenminister – ich unterstelle jetzt einfach, dass Guido Westerwelle nicht der erste schwule Außenminister war – mit seinem Lebensgefährten und zum Beispiel Kanzler Adenauer in der Öffentlichkeit zeigte.
Es gibt noch ein weiteres schönes Beispiel, das ich gefunden habe. Ich will aus der „Welt“ zitieren, die von einem Ereignis im Juli letzten Jahres berichtet. Sie schreibt – ich darf zitieren –: Wer hätte das gedacht. Auf seine alten Tage hat Altkanzler Helmut Kohl noch einmal seinen Segen gegeben – auf einer Schwulenhochzeit. „Ich habe es sehr gern getan, bekannte der 83-Jährige danach.“ Es ging nämlich um die Hochzeit seines ehemaligen Rechtsanwalts, der seinen Lebenspartner geheiratet hat.
Und die Justiz? Wie hat sich die deutsche Justiz gewandelt? Heute ist – ich will es einmal so formulieren – das Bundesverfassungsgericht beinahe so etwas wie ein Vorkämpfer für die Rechte von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Solche Urteile, wie ich sie am Anfang zitiert habe, sind, glaube ich, in Karlsruhe heute nicht mehr zu erwarten.
Toleranz und Respekt vor anderen Lebensformen brauchen aber lange, bis sie in der Gesellschaft verankert und auch sehr tief verwurzelt sind. Bereits in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts gab es einen sehr modernen und auf-geklärten Umgang mit Homosexualität, der dann aber leider wenige Jahre später wieder in menschenverachtende Verfolgung zurückfiel. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass sich Verfolgung von Homosexualität weder in strafrechtlicher noch in gesellschaftlicher Hinsicht wiederholt – nicht nur weil Toleranz gegenüber LSBTTI gerade modern ist. Das kann gelingen, wenn wir auch in diesem Punkt unsere Geschichte nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern in der ganzen Bundesrepublik gemeinsam aufarbeiten und wachhalten.
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, wo es noch genügend Zeitzeugen gibt, die darüber berichten können, wo es noch genügend Betroffene gibt, denen wir die Hand zur Entschuldigung reichen können.
Ich bitte daher um Zustimmung zu unserem vorliegenden Antrag.
Hier der vom Plenum einstimmig beschlossene Antrag MMD16-5282